Faschingserinnerungen

Keiner kann behaupten, ich hätte mir das nicht gut überlegt …

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Fortsetzung Variante A: Keiner kann behaupten, ich hätte mir das nicht gut überlegt … denn immerhin liegt der Winnetou-Skandal schon mehr als zwei Wochen zurück. Und ist in der Turbowelt der News-Sensations damit schon längst Geschichte. Deshalb eine kurze Erinnerungshilfe: Der Ravensburger Verlag hat ein Buch zum Film „Der junge Häuptling Winnetou“ produziert, aber nicht ausgeliefert. Was war passiert? Die woke Minderheitsgesellschaft hatte sich bei Twitter über Buch und Film echauffiert und zu einem weiteren Cancel-Culture-Kreuzzug aufgerufen. Man kennt das ja schon … kulturelle Aneignung, Verletzung von Gefühlen, Verharmlosung der Geschichte etc. etc.etc. Der Chor der politisch korrekt Empörten schwoll an ins Fortissimo.  

So, und jetzt bin ich auch mal empört!

Erstens: Ich möchte nicht, dass man den Verlag bashed, mit dem ich aufgewachsen bin, weil ich weite Teile meiner Kindheit und Jugend in dieser hübschen schwäbischen Kleinstadt Ravensburg verbracht habe.

Zweitens: Diesem Verlag haben viele Kinder, auch ich, grandiose Lese-Erlebnisse zu verdanken, die bis heute pädagogisch wertvoll nachwirken – allem voran Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ mit den Folgebänden. By the way: Dieser Verlag hat bereits in den 80er Jahren zwei Jugendromane von Gudrun Pausewang herausgegeben, die sich mit dem Thema Atomkriege und -unfälle beschäftigen. Diese Lektüre möchte ich allen empfehlen, die jetzt reflexartig nach längeren Laufzeiten von Atomkraftwerken krähen und die das trotz der möglichen Katastrophe, die uns allen im ukrainischen Saporischja droht, tun.

Drittens: Die Eltern meiner engsten Schulfreundin arbeiteten beide bei diesem Verlag und hatten zuhause wirklich alle Bücher und Spiele von ihm. In dieser Zeit habe ich gelernt, was es heißt, neidisch zu sein. Meine Eltern waren beide Lehrer und hatten viele Schulbücher.

Und viertens: Ich lasse mir meine Faschingserinnerungen nicht kaputt machen! Und vielleicht schreibe ich das nicht nur für mich selbst, sondern auch weitere Vertreter der Babyboomer-Generation. Wir waren vielleicht nicht so politisch korrekt und woke. Aber deshalb sind wir noch lange keine schlechten Menschen.

Fortsetzung Variante B: Keiner kann behaupten, ich hätte es mir nicht gut überlegt … dass ich die komplexe Gemengelage aus Fasching, Kultureller Aneignung und Cancel Culture einmal verdichtet habe.

Faschingserinnerungen

Als Mohrin trug ich einst Röckchen aus Bast,
heute würde mir dafür ein Shit-Storm verpasst –
oder meinen Eltern, diesen Ignoranten,
die die Sensibilität des Themas verkannten:

„Unmöglich, dass ihr Kind auf People of Colour macht,
solch kulturelle Aneignung ist unangebracht.
Lasst sie uns canceln, diese Ärger-Erreger,
vermutlich sagen die auch noch das N-Wort.“

„Canceln, Canceln“, rufen die Woken im Chor! „Ihr werdet deleted und kommt nirgends mehr vor!“

Außerdem muss ich euch gesteh‘n:
Als Kind ließ man als Squaw mich geh‘n.
Mir war nicht klar, ich wusste nicht,
dass mein Kostüm Tabus wohl bricht.

Wenn heut‘ ein Kind sich so verkleidet,
es den „Indianer“ besser meidet.
Wenn’s sein muss, geht’s als indigen,
ist als First Nation dann zu sehn.

„Canceln, Canceln“, rufen die Woken im Chor! „Ihr werdet deleted und kommt nirgends mehr vor!“

Und später, in meiner Hippie-Jugend,
war es für viele von uns eine Tugend,
die Haare zu Rastazöpfchen zu flechten.
Ich wollte damit keinen entrechten

und schmähen oder respektlos verhöhnen.
Nein, ich wollte mich einfach verschönen!
Getanzt haben wir gerne zu Reggae-Musik,
auch das war kein Grund für Scham und Kritik.

Das war nicht gemein, nein, wirklich nicht.
Bob MARLEY, der gefiel uns schlicht.
Heute hingegen darf das nicht sein.
Für Weiße muss es Bob DYLAN sein.

Okay, okay, ihr habt gewonnen.
Mein wokes Leben hat begonnen.
Politisch korrekt will ich ab jetzt sein.
Ich habe verstanden und sehe ein
:

Weiße Kinder sollen Weiße nur spielen,
auch wenn sie sich anders viel besser gefielen.
Ganz unangreifbar sind sie als Figur 
aus Märchen, aber deutschen nur.

„ Mama, darf ich als Scheherezade?“ „Das geht nicht, nein.
Du kannst Aschenputtel oder auch Gretel sein!“ 
„Aber ich will Ali Baba werden, der war so stark.“
„Nichts da, du gehst als Rumpelstilz, red‘ nicht so’n Quark.

Die Mehrheitsbevölkerung soll sich selbst nur sehen,
deshalb sollen Weiße als weiß nur noch gehen.
Ich mag auch nicht mehr fremdländisch speisen,
und werde künftig nur inländisch reisen.

Neue Sprachen lern‘ ich nicht mehr,
denn die braucht irgendwann niemand mehr.
Ab jetzt sofort und gleich muss es reichen,
zu kommunizieren mit meinesgleichen.

Und wer das ist, bestimme ich. Ganz allein!
Und gehe dabei kein Risiko ein!
Kulturell eigne ich mir gar nichts mehr an,
das Interesse an Fremdem steht ganz hintenan.

Ich bleibe in meinen Bubbles und Blasen
und dresch‘ dort die immer selben Phrasen.
Über andere Kulturen will ich nichts wissen
und das Beste ist: Ich muss es nicht müssen.

Ich cancel Kulturen, die ich nicht kenne,
bevor ich in die Falle renne,
politisch nicht korrekt zu sprechen
und Twitter-Shit-Storms loszubrechen.

Cancel Culture meint‘s gut und macht’s schlecht.
Zu moralinsauer ist sie, dogmatisch, im Recht.
Sie hebt Gräben aus, die sind tiefer als tief,
Es ist der Spaltpilz, den sie ruft  und schon rief.

Die Canceller krakeelen. Vom Rest kommt Schweigen:
Lieber nichts sagen als verbal was vergeigen.
Und die Moral von dem Gedicht:
Cancel Culture braucht man nicht.

©Corinna Freudig